Überlegungen zum freien Willen
„Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will.“ Robert Musil[1]
Ständig müssen wir uns entscheiden. Aber handeln wir wirklich unabhängig? Nein, sagen manche. Alle unsere Entscheidungen seien vorbestimmt. Wir handelten danach, wer wir sind.
Das würde unser Rechtssystem komplett auf den Kopf stellen. Denn nur wenn man für ein Verbrechen verantwortlich ist, ist man schuldig und kann bestraft werden. Aber wie kann ich für etwas haftbar gemacht werden, wenn ich gar nicht anders handeln konnte?
Handle ich frei und bin ich dafür verantwortlich? Diese Frage beschäftigt Philosophen seit Jahrhunderten – und bis heute hat man keine endgültige Antwort gefunden.
Aber was ist das überhaupt, ein „freier Wille“? Schon hier beginnt der Streit. (siehe Kasten 1)
Ist der freie Wille nur eine Illusion? Ist schon vorbestimmt, wofür wir uns entscheiden? (siehe Kasten 2)
Aber auch wenn Wissenschaftler behaupten, der freie Wille sei nur eine Fiktion – ich kann mir das nicht vorstellen! Denn wenn alles vorbestimmt wäre, müsste es eine Logik dahinter geben, ein System, das man eventuell sogar erkennen könnte.
Und wann wäre alles vorbestimmt worden? Wurde bei meiner Geburt festgelegt, welche Entscheidungen ich mein ganzes Leben lang treffen werde? Nicht sehr überzeugend: Zu diesem Zeitpunkt habe ich ja praktisch noch keine Erfahrungen, noch keinen Charakter, höchstens Veranlagungen aus den Genen. Aber genau darauf beruhen ja meine Entscheidungen. Das würde also bedeuten, dass bei meiner Geburt bereits festgestanden hätte, wie sich mein Charakter entwickeln wird! Woher soll mein Gehirn denn ahnen, ob ich irgendwann einen Schicksalsschlag erleiden werde, nach dem sich meine Psyche ändert?
Oder steht nach der Kindheit fest, wie ich mich mein restliches Leben lang entscheiden werde, wenn sich der Charakter gefunden hat? Aber wann ist man kein Kind mehr?
Außerdem kann jemand auch mit 55 einen Schicksalsschlag erleiden, nachdem er nicht mehr derselbe ist wie früher. Nehmen wir an, man hat jemandem, dem man wirklich vertraut, ein Geheimnis anvertraut, das unter keinen Umständen bekannt werden sollte. Und kurze Zeit später wüsste es jeder. Nehmen wir mal an, man schlussfolgert daraus, dass man niemandem vertrauen kann, lässt folglich jeden so wenig über sich wissen wie nur möglich. Also erzählt man niemandem mehr etwas auch nur annähernd Privates und muss Probleme auf sich allein gestellt lösen. Egal, ob das mit fünf Jahren, mit 15, 25 oder 65 war – danach trifft man bestimmte Entscheidungen, nämlich wem man was erzählt, anders. Und wie soll das jemals vorbestimmt sein, wenn der Auslöser, das Weitererzählen von einer Vertrauensperson, nicht eine eigene Entscheidung war, sondern eine Handlung von jemand anders?
Deswegen bin ich der Meinung, dass man sich zwar dafür entscheiden kann, was man für richtig hält, also was man will. Aber was man richtig findet, ist von Faktoren bestimmt wie z.B. Genetik, Erfahrungen, Umwelteinflüssen usw. – Faktoren also, die man nicht beeinflussen konnte bzw. kann. Man ist also auch für seine Taten verantwortlich.
Außerdem haben Psychologen herausgefunden, dass der Zweifel am freien Willen Menschen aggressiver, weniger hilfsbereit und unmotivierter macht und das Bereitschaftspotenzial im Libetschen Versuch verändert.[2] Das zeigt einmal, dass es sich lohnt, an ihn zu glauben – und begründet außerdem den Zweifel an der Schlussfolgerung des Experiments: Denn wenn meine Haltung zum Sinn des Versuchs dessen Ergebnis beeinflusst, ist meine Entscheidung ja eben nicht bedeutungslos.
KundRy
KASTEN 1:
Denkschulen – kurzer Abriss
Nach der Theorie von der „bedingten Willensfreiheit“ ist der Wille frei, wenn er sich nach den persönlichen Motiven und Neigungen bildet. Die getroffene Entscheidung hängt also von der Persönlichkeit und von Umwelteinflüssen ab.[3]
Laut dem Konzept der „unbedingten Willensfreiheit“ dagegen ist ein freier Wille komplett unabhängig – und hat weder etwas mit Umwelteinflüssen, noch mit der Persönlichkeit zu tun.[4] Dies würde allerdings bedeuten, dass eine Handlung völlig ohne Motiv getroffen wird. Was bedeutet dann Freiheit? Daher wird diese Position heute eher kritisch gesehem.
Der Determinismus geht davon aus, dass alle Ereignisse Folgen von früheren Ereignissen sind.[5]
Vertreter des harten Kompatibilismus sind der Meinung, dass der Determinismus und der freie Wille zusammen gehören – dass es also einen freien Willen gibt, der auf vergangenen Erlebnissen beruht[6] -, während Vertreter des weichen Kompatibilismus davon ausgehen, dass vergangene Ereignisse keine Rolle spielen – man handle nach Gründen, die einem nicht vollständig bewusst sind.[7]
Der Inkompatibilismus dagegen besagt, dass Willensfreiheit nichts mit dem Determinismus zutun hat – würde der Wille auf vergangenen Ereignissen beruhen, sei er nicht frei.[8] Vertreter des „Harten Determinismus“, die zum Inkompatibilismus gehören, begründen mit dem Determinismus, dass es keinen freien Willen gibt.[9]
Einerseits gehen die meisten Denkschulen also davon aus, dass der Wille des Menschen von seinen Erbanlagen und Umwelteinflüssen bestimmt wird.[10]
Andererseits zeigen neue Untersuchungen in der Hirnforschung, dass man schon Sekunden, bevor jemand eine bewusste Entscheidung trifft, in seinem Gehirn messen kann, wofür er sich entscheiden wird. Die Entscheidung wurde demnach bereits getroffen, bevor derjenige sich bewusst entschieden hat. (siehe Kasten 2)
KASTEN 2:
Libetscher Versuch
Der US-amerikanische Neurobiologe Benjamin[11] stellte in den späten 70er Jahren Versuchspersonen vor folgende Aufgabe: Sie mussten sich entscheiden, entweder den rechten Finger oder die ganze rechte Hand zu heben und sich gleichzeitig den Zeitpunkt dieser Entscheidung durch Blick auf einen rotierenden Zeiger merken. Während dessen wurden an den Probanden EEG-Aufzeichnungen gemacht, aus denen dann das so genannte Bereitschaftspotenzial herausgefiltert wurde. Dabei handelt es sich um eine Erregnungswelle in den motorischen bzw. prämotorischen Arealen der Hirnrinde, die immer dann auftritt, wenn Willkürbewegungen (wie z.B. das Bewegen eines Fingers) ausgeführt werden. Die Versuche ergaben, dass das gemessene Potential dem bewussten Entschluss im Schnitt rund eine halbe Sekunde vorausging, mit ihm jedoch niemals zeitlich zusammenfiel oder ihm gar folgte.
Dieser Befund wird von Neurobiologen dahingehend gedeutet, dass der Willensentschluss nicht die Ursache der Bewegung ist, sondern nur eine Art Begleitgefühl der Handlung darstellt. Das Ich ratifiziert also gewissermaßen nur, was längst vorbewusst festgelegt wurde.
Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“, Reinbek b. Hamburg, 2000, Bd. 2, S. 1421 ↩
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/06/Entscheidungsfreiheit ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
https://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/Alles%20Illusion.pdf ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Philosophische_Positionen ↩
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Genetik ↩
http://sciencev1.orf.at/news/130679.html ↩
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